Die Gottesknechts-Lieder im Buch Jesaja

Einführung

Im Buch Jesaja haben vier Abschnitte die poetische Form eines Liedes. In allen vier Liedern wird der Gottesknecht besungen (Jes42,1-7; Jes.49,1-9; Jes.50,4-9; Jes.52,13-53,12).

Im ersten Lied wird er vorgestellt und berufen. Der HERR spricht selbst und nennt ihn: „mein Auserwählter, an welchem meine Seele Wohlgefallen hat.“ Dann erklärt der HERR, dass sein Knecht den Auftrag hat, auf der Erde das Recht zu gründen.

Im zweiten Lied singt der Gottesknecht zunächst selbst von seiner Berufung und Zurüstung und dann von seiner Verachtung durch Israel. Der HERR beruft seinen Knecht zum Mittler des Bundes nach Israels Rückkehr aus der Verbannung und sendet ihn aus als Licht der Nationen.

Das gesamte dritte Lied singt der Gottesknecht selbst und beschreibt darin sein williges Leiden und seine Rechtfertigung durch Gott den HERRN.

In den ersten drei Liedern führt der Gottesknecht seinen Dienst durch sein Wort aus. Im Gegensatz dazu besteht im vierten Lied sein Dienst in schweigendem Leiden.

Das vierte Lied beginnt und schließt mit Worten des HERRN. Dazwischen besingen Augenzeugen die Geschichte des leidenden Gottesknechtes.

Wer ist der Gottesknecht?

Vier verschiedene Personengruppen und Einzelpersonen werden im Buch Jesaja als Gottesknecht bezeichnet. Darum ist es notwendig, die Frage zu klären, wer in den vier Liedern als Gottesknecht gemeint ist.

1.) Das Volk Israel:

Die erste Stelle, wo der HERR den Namen seines Knechtes nennt, ist Jesaja 41,8: Du aber, Israel, mein Knecht.

Insgesamt wird das Volk Israel siebenmal als Knecht Gottes bezeichnet: (41,8; 44,1; 44,2; 44,21; 45,4; 48,20; 49,3).

2.) Der Messias:

Der Beginn des ersten Gottesknechtsliedes zeigt, dass in diesem Fall der Knecht des HERRN der Messias ist, denn er ist mit dem Geist Gottes gesalbt: Jes. 42,1 Siehe, das ist mein Knecht, … Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt (vgl. auch Jes.11). Allerdings kann dieser Knecht sowohl ein persönlicher als auch ein kollektiver Messias sein, denn der HERR verspricht den Treuen von Israel: Ich werde meinen Geist in euer Inneres geben (Hes.36,27).

3.) Der treue Überrest von Israel:

In Jesaja 43 nennt der HERR solche Menschen aus Israel, denen Er die Sünden vergeben hat, „meine Zeugen und mein Knecht“. Jes.43,10 Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR, und mein Knecht, den ich erwählt habe: damit ihr erkennt und mir glaubt und einseht, dass ich derselbe bin. Jes.43,25 Ich, ich bin es, der deine Übertretungen tilgt um meinetwillen; und deiner Sünden will ich nicht mehr gedenken.

4.) Kores:

Der Perserkönig Kores wird in Jesaja 44/45 als Gottes Hirte und Gesalbter bezeichnet. Jes.44,28 der von Kores spricht: Mein Hirte und der all mein Wohlgefallen ausführt, und zwar, indem er von Jerusalem sagen wird: Es werde aufgebaut! und vom Tempel: Er werde gegründet!

Jes.45,1

So spricht der HERR zu seinem Gesalbten, zu Kores.

Wir finden also die Bezeichnung „Knecht Gottes“ bzw. „Knecht des HERRN“ sowohl im kollektiven Sinn für das Volk Israel bzw. für eine Auswahl des Volkes als auch für Einzelpersonen.

Das erste Lied: Jes.42, 1-7

Siehe, mein Knecht, den ich stütze, mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat: Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, er wird den Nationen das Recht kundtun. Er wird nicht schreien und nicht rufen und seine Stimme nicht hören lassen auf der Straße. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen; er wird der Wahrheit gemäß das Recht kundtun. Er wird nicht ermatten und nicht niedersinken, bis er das Recht auf der Erde gegründet hat; und die Inseln werden auf seine Lehre harren. So spricht Gott, der HERR, der die Himmel schuf und sie ausspannte, der die Erde ausbreitete mit ihren Gewächsen, der dem Volk auf ihr den Odem gab und den Hauch des Lebens denen, die darauf wandeln: Ich, der HERR, ich habe dich gerufen in Gerechtigkeit und ergriff dich bei der Hand; und ich werde dich behüten und dich setzen zum Bund des Volkes, zum Licht der Nationen, um blinde Augen aufzutun, um Gefangene aus dem Kerker, um blinde Augen aufzutun, um Gefangene aus dem Kerker herauszuführen, und aus dem Gefängnis, die in der Finsternis sitzen.

Im diesem ersten Lied stellt der HERR seinen Knecht vor und beschreibt seinen Auftrag. Der Knecht ist der Erwählte Gottes und soll den Völkern das Recht bringen. Um seine Mission zu erfüllen, wird dem Knecht der Geist Gottes gegeben. Der Knecht wird unermüdlich und gewaltlos an seiner Mission festhalten, bis sie verwirklicht ist: „er wird den Nationen das Recht kundtun... Er wird nicht ermatten und nicht niedersinken, bis er das Recht auf der Erde gegründet hat“.

Bevor das Recht auf der ganzen Erde gegründet ist, wird aber der Messias das Gericht an den Gesetzlosen auf der Erde vollstrecken (vgl. Jes.63,1-4).

Der Tag der Rache lag noch in der Zukunft, als Jesus Christus in der Synagoge von Nazareth aus Jesaja 61 folgende Worte vorlas:

Jes.61,1-2a

Der Geist des Herrn, HERRN, ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat, den Sanftmütigen frohe Botschaft zu bringen, weil er mich gesandt hat, die zu verbinden, die zerbrochenen Herzens sind, Freiheit auszurufen den Gefangenen und Öffnung des Kerkers den Gebundenen; auszurufen das Jahr des Wohlgefallens des HERRN

An dieser Stelle des Satzes hielt der Herrn an und sagte: Heute ist diese Schrift vor euren Ohren erfüllt (Lk.4,21).

Die zweite Hälfte des letzten Satzes und die Fortsetzung (Jes.61,3) lauten:

und den Tag der Rache unseres Gottes und zu trösten alle Trauernden; um den Trauernden Zions aufzusetzen und ihnen zu geben Kopfschmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauer, ein Ruhmesgewand statt eines verzagten Geistes; damit sie genannt werden „Terebinthen der Gerechtigkeit, eine Pflanzung des HERRN“, zu seiner Verherrlichung.

Nach der Vollstreckung des Gerichts an den Feinden Israels folgt das Gericht an den Lebenden (Mt.25,31-46), das den Beginn des messianischen Friedensreiches darstellt.

Mt.25,31-32

Wenn aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen und alle Nationen werden vor ihm versammelt werden, und er wird sie voneinander scheiden, so wie der Hirte die Schafe von den Böcken scheidet.

Dann wird auch der letzte Teil des ersten Gottesknechts-Liedes in Erfüllung gehen: Ich werde dich behüten und dich setzen zum Bund des Volkes, zum Licht der Nationen.

Das zweite Lied: Jes.49,1-9

Hört auf mich, ihr Inseln, und hört zu, ihr Völkerschaften in der Ferne! Der HERR hat mich berufen von Mutterleib an, hat von meiner Mutter Schoß an meinen Namen erwähnt. Und er machte meinen Mund wie ein scharfes Schwert, hat mich versteckt im Schatten seiner Hand; und er machte mich zu einem geglätteten Pfeil, hat mich verborgen in seinem Köcher. Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, an dem ich mich verherrlichen werde. Ich aber sprach: Umsonst habe ich mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt; doch mein Recht ist bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott. Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht gebildet hat, um Jakob zu ihm zurückzubringen – und Israel ist nicht gesammelt worden; aber ich bin geehrt in den Augen des HERRN, und mein Gott ist meine Stärke geworden –, ja, er spricht: Es ist zu gering, dass du mein Knecht seist, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzubringen. Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um meine Rettung zu sein bis an das Ende der Erde. So spricht der HERR, der Erlöser Israels, sein Heiliger, zu dem von jedermann Verachteten, zum Abscheu der Nation, zum Knecht der Herrscher: Könige werden es sehen und aufstehen, Fürsten, und sie werden sich niederwerfen um des HERRN willen, der treu ist, des Heiligen Israels, der dich erwählt hat. So spricht der HERR: Zur Zeit der Annehmung habe ich dich erhört, und am Tag der Rettung habe ich dir geholfen. Und ich werde dich behüten und dich setzen zum Bund des Volkes, um das Land aufzurichten, um die verwüsteten Erbteile auszuteilen, um den Gefangenen zu sagen: Geht hinaus! zu denen, die in Finsternis sind: Kommt ans Licht! Jubelt, ihr Himmel, und frohlocke, du Erde! Brechet in Jubel aus, ihr Berge, denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich über seine Elenden!

Im zweiten Lied singt der Gottesknecht zunächst in den Versen 1-3 selbst von seiner Berufung und Zurüstung; bis V.7 folgen dann seine Verachtung durch Israel und seine Sendung zu den Nationen als Licht. Von V.6 an spricht der HERR und beruft in den Versen 8-9 seinen Knecht zum Mittler des Bundes nach der Rückkehr Israels aus der Verbannung.

In diesem Lied bezeichnet der HERR das Volk Israel als seinen Knecht:

„Du bist mein Knecht, bist Israel, durch den ich mich verherrliche.“ (V.3).

Als Saul auf dem Weg nach Damaskus war, erschien ihm Jesus Christus in seiner himmlischen Herrlichkeit und fragte ihn: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ (Apg.9,4).

Mit diesen Worten identifizierte sich der Herr mit den Menschen, die zu der Gemeinde der Gnadenzeit gehörten. Eine entsprechende Identifiziereng verwendet der Herr bei dem Gericht zu Beginn des messianischen Reiches. Er erklärt den Gerechten: „Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan“ (Mt.25, 40). Diese geringsten Brüder des Herrn gehören zu den Treuen des Volkes Israel, die gerade vom Herrn aus der intensivsten Drangsal aller Zeiten errettet worden sind (vgl. meinen Aufsatz: Gottes Plan mit Israel). Hier identifiziert sich der Herr mit Menschen aus seinem Volk Israel (vgl. auch Dan.7, 14 & 27, wo der Menschensohn mit dem Volk des Allerhöchsten gleichgesetzt wird).

In Vers 4 schildert der Knecht, wie nutzlos ihm sein Dienst erscheint: „Ich aber sprach: Umsonst habe ich mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt.“ Der HERR hatte ihn von Mutterleib an für die Aufgabe zubereitet, „um Jakob zu ihm zurückzubringen“. Da aber seine Mühen um Israel zunächst umsonst waren – Israel wurde nicht gesammelt, sagt der HERR nun: „Es ist zu gering, dass du mein Knecht seist, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzubringen. Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um meine Rettung zu sein bis an das Ende der Erde.“

Aus diesen Worten geht klar hervor, dass dieser Knecht nicht das Volk Israel sein kann. Für Christen ist Jesus Christus dieser Knecht. Da aber in diesem Lied Israel als Knecht Gottes bezeichnet wird, wollen wir uns fragen, ob nicht neben der Person des Messias auch Israel dazu berufen ist, Gottes Rettung bis an das Ende der Erde zu bringen.

Unser Herr sagte (Mt.24,14): „Dieses Evangelium vom Reich wird in der ganzen Welt gepredigt werden, zum Zeugnis allen Völkern.“ Diese Prophezeiung wird nach der Entrückung der Gemeinde in Erfüllung gehen, wobei m.E. die 144 000 Versiegelten aus den 12 Stämmen Israels die Verkündigung durchführen werden. Danach wird im messianischen Friedensreich Gottes ursprünglicher Plan mit seinem Volk Israel erfüllt sein: Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation sein (2.Mo.19,6). Auch dadurch wird Israel Gottes Heil bis an das Ende der Erde sein.

In Vers 8 beschreibt der HERR seinen Knecht als dem von jedermann Verachteten, und spricht ihn erneut an: „Ich werde dich behüten und dich setzen zum Bund des Volkes.

Die Tatsache, dass der Knecht des HERRN von jedermann verachtet wurde, wird auch im vierten Lied beschrieben:

Er war verachtet und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut, und wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt; er war verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet (Jes.53,3).

Nachdem das Volk ihn verworfen hat, wird der HERR ihn dem Volk zum Bund geben. – Das ist dieselbe Verheißung wie im ersten Lied des Gottesknechts. Im Rahmen dieses neuen und ewigen Bundes (Jer.31,31-40; Jes.61,8) wird der Knecht des HERRN dem Volk Israel die verwüsteten Erbteile wieder zurückerstatten und seine Gefangenen befreien.

Das dritte Lied: Jes.50,4-9

Der Herr, HERR, hat mir eine Zunge der Belehrten gegeben, damit ich wisse, den Müden durch ein Wort aufzurichten. Er weckt jeden Morgen, er weckt mir das Ohr, damit ich höre wie solche, die belehrt werden. Der Herr, HERR, hat mir das Ohr geöffnet, und ich bin nicht widerspenstig gewesen, bin nicht zurückgewichen. Ich bot meinen Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden, mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber der Herr, HERR, hilft mir; darum bin ich nicht zuschanden geworden, darum machte ich mein Angesicht wie einen Kieselstein und wusste, dass ich nicht würde beschämt werden. Nahe ist, der mich rechtfertigt: Wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen hintreten! Wer hat eine Rechtssache gegen mich? Er trete her zu mir! Siehe, der Herr, HERR, wird mir helfen: Wer ist es, der mich für schuldig erklären könnte?

In diesem ganzen Lied spricht der Knecht selbst und beschreibt, wie er als treuer Jünger auf Gottes Stimme hört und seinen schweren Auftrag als leidender Messias ausführt: Ich bot meinen Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden, mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.

Sein Vertrauen auf Gott den HERRN ist Stärkung in all seinen Leiden, und er weiß: „Siehe, der Herr, HERR wird mir helfen“. Er stellt die rhetorische Frage: Wer ist es, der mich für schuldig erklären könnte? Er ist der einzige Mensch, den niemand für schuldig erklären kann.

Im ersten Lied spricht nur Gott der HERR. Im zweiten Lied spricht sowohl der HERR als auch der Knecht. Im dritten Lied spricht nur der Knecht. Im vierten Lied sprechen nur der HERR und Menschen, die den leidenden Knecht beobachten und sich Gedanken über ihn machen – der Knecht leidet stumm, er tat seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.

Das vierte Lied: Jes.52,13-53,12

Siehe, mein Knecht wird weislich handeln, er wird emporkommen, erhöht werden und sehr erhaben sein. Gleichwie sich viele über dich entsetzten – so sehr war sein Angesicht entstellt, nicht mehr wie das eines Menschen, und seine Gestalt, nicht mehr wie die der Menschenkinder – also wird er viele Heiden in Erstaunen setzen und Könige werden vor ihm den Mund schließen. Denn was ihnen nie erzählt worden war, das werden sie sehen, und was sie nie gehört hatten, werden sie wahrnehmen. Wer hat dem geglaubt, was uns verkündigt ward, und der Arm des HERRN, wem ward er geoffenbart? Er wuchs auf vor ihm wie ein Schoß, wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und keine Pracht; wir sahen ihn, - aber sein Anblick gefiel uns nicht. Verachtet war er und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Krankheit vertraut; wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt, so verachtet war er, und wir achteten seiner nicht. Doch wahrlich, unsere Krankheit trug er, und unsere Schmerzen lud er auf sich; wir aber hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und geplagt; aber er wurde durchbohrt um unserer Übertretung willen, zerschlagen wegen unserer Missetat; die Strafe, uns zum Frieden, lag auf ihm, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, ein jeder wandte sich auf seinen Weg; aber der HERR warf unser aller Schuld auf ihn. Da er misshandelt ward, beugte er sich und tat seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das vor seinem Scherer verstummt und seinen Mund nicht auftut. Infolge von Drangsal und Gericht wurde er weggenommen; wer bedachte aber zu seiner Zeit, dass er aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, wegen der Übertretung meines Volkes geschlagen ward? Und man gab ihm bei Gottlosen sein Grab und bei einem Reichen seine Gruft, obwohl er kein Unrecht getan hatte und kein Betrug in seinem Munde gewesen war. Aber dem HERRN gefiel es, ihn zu zerschlagen, er ließ ihn leiden. Wenn er seine Seele zum Schuldopfer gegeben hat, so wird er Nachkommen sehen und lange leben; und des HERRN Vorhaben wird in seiner Hand gelingen. An der Arbeit seiner Seele wird er sich satt sehen; durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, viele gerecht machen, und ihre Schulden wird er auf sich nehmen. Darum will ich ihm unter den Großen seinen Anteil geben, und er soll Starke zum Raube erhalten, dafür, dass er seine Seele dem Tode preisgegeben hat und sich unter die Übeltäter zählen ließ und die Sünden vieler getragen und für die Übeltäter gebetet hat!

Der HERR selbst spricht am Anfang und am Ende dieses Liedes: Siehe, mein Knecht und Darum will ich ihm … Anteil geben.

Dieses vierte Lied entfaltet das Thema des dritten Liedes, das Leiden des Gottesknechts. Begonnen und abgeschlossen wird dieses Lied mit Worten des HERRN (52,13 und 53,11b-12).

Das Leiden und die weitere Geschichte des Gottesknechtes werden von Augenzeugen besungen. Es spricht vieles dafür, dass das Volk Israel diese Augenzeugen sind. Prophetisch wird in Sach.12,10 davon berichtet, wie sie den anschauen, den sie vor ca.2000 Jahren durchstochen hatten.

Der HERR selbst leitet das Lied mit einer Vorausschau der herrlichen Zukunft seines Knechtes ein: Siehe, mein Knecht wird weislich handeln, er wird emporkommen, erhöht werden und sehr erhaben sein.“

Diesen Vers ergänzt der Targum des Jonathan Ben Uzziel mit den Worten: „So wird es meinem Knecht, dem Messias, gelingen.

Heute sehen dagegen fast alle jüdischen Ausleger in dem Gottesknecht das Volk Israel, das unter den Nationen leidet.

Nach dem einleitenden Wort des HERRN über die herrliche Zukunft seines Knechtes wird das Leben und Leiden des Gottesknechtes aus der Sicht von Augenzeugen geschildert. Zunächst vergleichen sie seine ärmliche Herkunft mit einem Wurzelspross aus dürrem Erdreich.

Das Bild des Wurzelsprosses wird auch für den Messias gebraucht in Jes.11, 10: Der Wurzelspross Isais, der dasteht als Banner der Völker, nach ihm werden die Nationen fragen, und seine Ruhestätte wird Herrlichkeit sein.

Die Zeugen berichten, dass sie den Knecht sehr verachteten und den Blick von ihm abwandten. Seine Krankheiten und Schmerzen hielten sie für Gottes Strafe. Aber in der Zwischenzeit haben diese Augenzeugen erkannt und bezeugen:

Er trug unsere Krankheit, und unsere Schmerzen lud er auf sich; ...er wurde durchbohrt um unserer Übertretung willen, zerschlagen wegen unserer Missetat; die Strafe, uns zum Frieden, lag auf ihm, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Man beachte den steten Wesel zwischen dem Gottesknecht und seinem Volk.

Sie berichten weiter, wie sich der Gottesknecht bei seinem Prozess nicht verteidigte und schließlich hingerichtet wurde. Damals kam niemand auf den Gedanken, dass er das alles stellvertretend für das Volk ertrug, obwohl er keinerlei Unrecht getan hatte.

Dann erklärt das Volk, dass in diesem stellvertretenden Leiden und Sterben des Knechtes der Wille Gottes erfüllt wurde.

Zum Abschluss würdigt der HERR selbst den Opfertod und die Fürbitte seines gerechten Knechtes für die Übeltäter und verspricht ihm reichen Lohn.

Wer ist der Gottesknecht in diesem vierten Lied?

Im zweiten Lied wurde neben dem Messias auch das Volk Israel kollektiv als Gottesknecht bezeichnet. Ein anderes Beispiel ist Jes.49,3, wo der HERR sagt: „Du bist mein Knecht, bist Israel, durch den ich mich verherrliche.“

Ibn Ezra (12.Jh.) schreibt hierzu: „Die Schmerzen und Krankheiten sind die Nöte und Drangsale der im Exil Lebenden“, und Mahari Kara (11.Jh.) fügt hinzu: „Weil keine andere Nation solche Schmerzen und Krankheiten hatte, war Israel verachtet und geächtet.“

Diese Auslegung der alten Rabbiner wird durch Ps.44,12-15 unterstützt: Du gabst uns hin wie Schlachtschafe, und unter die Nationen hast du uns zerstreut. Du verkauftest dein Volk für ein Geringes und hast ihren Preis nicht hoch gesetzt. Du machtest uns zum Hohn unseren Nachbarn, zum Spott und Schimpf denen, die uns umgeben. Du machtest uns zum Sprichwort unter den Nationen, zum Kopfschütteln unter den Völkerschaften.

Dann fragt der Psalmist nach dem Grund für dieses Leiden von Israel und gibt folgende Antwort (Ps.44,21-23):

Wenn wir den Namen unseres Gottes vergessen und unsere Hände zu einem fremden Gott ausgestreckt hätten, würde Gott das nicht erforschen? Denn er kennt die Geheimnisse des Herzens. Doch um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag, wie Schlachtschafe sind wir geachtet.“

Es ist daher falsch, das ganze Leid Israels als Gottes Strafe für die Sünde dieses Volkes zu definieren. Auch die drei Freunde Hiobs haben diesen Fehler gemacht. Aber Gott sandte den Elihu zu Hiob, der ihm das falsche Gottesbild seiner Freunde und sein eigenes falsches Gottesbild vor Augen stellte.

Die Christenheit hat durch Jahrhunderte behauptet, Gott habe Israel aufgrund der Verwerfung von Jesus Christus endgültig verworfen und die Kirche an Israels Stelle gesetzt (Ersatz/Replcement-Theologie). Die Aufgabe echter Christen ist es aber, dem Volk Israel Gottes Gedanken so zu erklären, wie Elihu es dem Hiob gegenüber tat (vgl. hierzu meinen Aufsatz: Gottes Plan mit Israel).

Andererseits hat Israel wegen der Anschuldigungen von Seiten der Christenheit sein Bibelverständnis im Laufe der Jahrhunderte immer mehr von der christlichen Sicht entfernt. Diese Entwicklung ist besonders deutlich an dem sich wandelnden Verständnis von Jes.53 zu beobachten.

Abrabarnel (15.Jh.) schreibt zu Jes.53: „Die erste Aufgabe ist, zu klären, auf wen sich diese Schriftstelle bezieht, denn die Gelehrten unter den Nazarenern (Christen) deuten sie auf den Mann, der gegen Ende des Zweiten Tempels in Jerusalem gekreuzigt wurde und Gottes Sohn war, der im Schoß der Jungfrau Menschengestalt annahm, wie es in ihren Schriften heißt. Jonathan Ben Uzziel legte sie im Targum auf den kommenden Messias aus; dies ist ebenfalls die Meinung unserer Gelehrten des Midrasch.“

Hier erkennen wir etwas von der Wandlung des rabbinischen Schriftverständnisses.

Rabbi Moses Alschekh (Safed, 16.Jh.) schreibt zu Jesaja 53:

Unsere Weisen haben von alters her die Tradition bezeugt, dass sich dieses Kapitel auf den Messias bezieht. Aus diesem Grund folgen wir ihnen und betrachten die Person dieser Prophetie als David, den Messias, der auf diese Weise erscheinen wir.

Rabbi Elia de Vivas (ebenfalls Safed 16.Jh.) vertritt ebenfalls diese Sicht:

So litt der Messias für unsere Sünden und wurde verwundet; wer nicht will, dass der Messias für unsere Übertretungen verwundet wurde, könnte die Wahl treffen, seine Sünden selbst zu tragen und für sie zu leiden.

Ein Abschnitt aus Zohar zu Jes.53 (Zohar, Amsterdam ed. Shenarth, S.98) bringt zum Ausdruck, dass der Messias alle Leiden und Krankheiten Israels trägt und lindert:

Die Seelen der Verstorbenen werden zum Messias kommen, und wenn sie berichten von den Leiden Israels in der Zerstreuung, dass sie schuldig sind, weil sie ihren Herrn nicht kennen wollen, dann wird er weinen um der Schuldigen willen, wie geschrieben steht: 'Er war durchbohrt um unserer Vergehen willen und zerschlagen für unsere Verbrechen'. Und dann werden diese Seelen aufstehen und an ihren Plätzen stehen. Und dort in dem Garten gibt es eine Burg mit dem Namen 'Haus der Kranken'. An diesem Tag wird der Messias diese Burg betreten und rufen: "Mögen alle Krankheiten und alle Leiden Israels auf mich kommen!" und sie werden kommen. Wenn nicht er Israels Leiden lindern und auf sich selbst laden würde, so könnte niemand wegen Israels Unterdrückung leiden. Darum steht in der Torah: 'Und es steht geschrieben: In Wahrheit trug er unsere Krankheit'.“

Nach diesen alten rabbinischen Zitaten wollen wir nun den Text von Jes.53 darauf hin untersuchen, ob dort Aussagen zu finden sind, die sich nicht auf das Volk Israel oder eine Auswahl aus diesem Volk beziehen können.

Vers 8 lautet: Er ist hinweggenommen worden aus der Bedrückung und aus dem Gericht. Und wer wird sein Geschlecht aussprechen? Denn er wurde abgeschnitten aus dem Lande der Lebendigen: wegen der Übertretung meines Volkes hat ihn Plage getroffen.

Zu den Versen 8-10 ergeben sich folgende Fragen:

Vers 8:

# Ist Israel jemals vor ein Gericht gestellt und exekutiert worden?

# Ist es möglich, dass Israel oder eine Auswahl von Israel wegen der Übertretung meines Volkes von Plage getroffen werden?

Vers 9:

# Kann man von Israel oder einer Auswahl behaupten, kein Unrecht getan zu haben?

Vers 10:

# Kann Israel oder eine Auswahl davon seine Seele zum Schuldopfer geben?

# Da Israel nicht exekutiert wurde, kann es auch nicht nach vollzogenem Schuldopfer lange leben d.h. auferstehen.

Das Schuldopfer musste vollkommen fehlerlos sein. Das wird im Buch Leviticus dreimal betont (3.Mo.5,15; 5,18; 6,6).

Kein einziger Nachkomme Adams ist fehlerlos; das sagte Salomo in seinem Gebet bei der Einweihung des Tempels (1.Kö.8,46): es gibt keinen Menschen, der nicht sündigt.

Dagegen wurde der Gottesknecht vom HERRN zerschlagen und zum Schuldopfer obwohl er kein Unrecht getan hatte und kein Betrug in seinem Munde gewesen war.

Der HERR selber nennt ihn den Gerechten, der die Schuld anderer auf sich nimmt und sie gerecht macht: durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, viele gerecht machen, und ihre Schulden wird er auf sich nehmen.

Dieser außergewöhnliche Gottesknecht ist der Messias, dessen Ursprung von den Tagen Ewigkeit her war (Micha 5,1) und von dem der HERR sagt (Ps.2,7): Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.

Was sagt das Neue Testament über den Gottesknecht in den vier Liedern?

Das Thema der vier Gottesknechtslieder durchzieht das ganze Neue Testament. Bei der Taufe von Jesus Christus „geschah eine Stimme vom Himmel: Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ (Mk.1,11 – vgl. Jes.42, 1).

Nach der Taufe von Jesus verkündigt Johannes der Täufer: „Siehe, das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt hinwegnimmt!“ (Joh.1,29 – vgl. Jes.49,6; 53,5 & 8 & 11).

Jesus Christus kündigte den zwölf Jüngern dreimal seinen Tod und seine Auferstehung an und bezieht sich damit auch Jes. 53. Die dritte Leidensankündigung lautet:

Er nahm aber die Zwölf zu sich und sprach zu ihnen: Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles erfüllt werden, was durch die Propheten über den Menschensohn geschrieben ist; denn er wird den Heiden überliefert und verspottet und misshandelt und angespien werden. Und sie werden ihn geißeln und töten, und am dritten Tage wird er wieder auferstehen (Lk.18,31-33 – vgl. Jes.50,6; 53,8 & 10).

Das vollkommene Opfer des Messias wird im Hebräerbrief 9,12 & 15 beschrieben:

nicht mit Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blut – ist ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung erfunden hatte.

... darum ist er Mittler eines neuen Bundes, damit, da der Tod stattgefunden hat zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen die Verheißung des ewigen Erbes empfingen.

Die Erhöhung des Messias nach vollbrachter Erlösung wird in Heb.10,12 beschrieben:

Er aber, nachdem er ein Schlachtopfer für Sünden dargebracht hat, hat sich auf immerdar gesetzt zur Rechten Gottes (vgl. Ps.110,1; Jes.52,13; 53,10-12).

Der Apostel Petrus erklärt, dass der Sühne-Tod des Messias der Plan Gottes war, bevor die Welt erschaffen wurde und dass er von den Toten auferweckt von Gott Herrlichkeit empfangen hat (1.Pet.1,18-21):

Ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichen Dingen, mit Silber oder Gold, erlöst worden seid von eurem eitlen, von den Vätern überlieferten Wandel, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken; der zwar zuvor erkannt ist vor Grundlegung der Welt, aber offenbart worden ist am Ende der Zeiten um euretwillen, die ihr durch ihn an Gott glaubt, der ihn aus den Toten auferweckt und ihm Herrlichkeit gegeben hat, damit euer Glaube und eure Hoffnung auf Gott sei.

Mit diesem neutestamentlichen Text wollen wir folgenden Auszug aus Jes.53 vergleichen:

er wurde aus dem Lande der Lebendigen weggerissen ... obwohl er kein Unrecht getan hatte. Wenn er seine Seele zum Schuldopfer gegeben hat, so wird er Nachkommen sehen und lange leben ... mein Knecht, der Gerechte, wird viele gerecht machen, und ihre Schulden wird er auf sich nehmen.

In 1.Pet.2,22-24 zitiert Petrus einige Verse aus Jes.53 wörtlich:

der keine Sünde tat, noch wurde Trug in seinem Mund gefunden, der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet; der selbst unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch dessen Striemen ihr heil geworden seid.

Auch der Apostel Johannes verweist auf das Sühneopfer von Jesus Christus (1.Joh.2, 2):

Er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt.

Im letzten Buch des Neuen Testaments, der Offenbarung, wird Jesus Christus als ein geschlachtetes Lamm gezeigt und besungen

(Off.5,6 & 9):

Und ich sah inmitten des Thrones und der vier lebendigen Wesen und inmitten der Ältesten ein Lamm stehen wie geschlachtet, das sieben Hörner hatte und sieben Augen, die die sieben Geister Gottes sind, die gesandt sind über die ganze Erde… Und sie singen ein neues Lied: Du bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft, durch dein Blut, aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation.

Diesem Lobgesang werden sich einmal alle Geschöpfe anschließen (Off.5,13):

Und jedes Geschöpf, das in dem Himmel und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Meer ist, und alles, was in ihnen ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm die Segnung und die Ehre und die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit!

(2023-08)