Evolution, Information und das Geheimnis des menschlichen Geistes
Hartmut Ising
Das Evolutionsmodell von Dawkins
Richard Dawkins beschreibt die natürliche Selektion als automatischen und blinden Prozess, der einerseits nicht zufällig abläuft, andererseits aber auf keinerlei höheres Entwicklungsziel ausgerichtet ist. Wenn diesem Prozess die Rolle eines Uhrmachers in der Natur zugeschrieben werden könne, dann die eines „blinden Uhrmachers“ – daher der Titel seines Buches (1). In diesem Buch bemüht sich Dawkins, ein weit verbreitetes Missverständnis der biologischen Evolution zu korrigieren, nach dem z. B. die Organisation von DNA-Sequenzen als reines Zufallsprodukt betrachtet wird. Statt das Ziel in einem einzigen praktisch unmöglichen „Zufallssprung“ zu erreichen, beschreibt er, wie er „die Unwahrscheinlichkeit in kleine handliche Teile zerlegt und damit den Zufall austrickst; er begibt sich auf die Rückseite des Berges der Unwahrscheinlichkeit und kriecht dort die sanften Abhänge hoch, einen Millionen-Jahr-Zentimeter nach dem anderen“.
Dieses Bild wird von Dawkins in einer Computersimulation anschaulich gemacht, mit deren Hilfe der Satz von Shakespeare “Methinks it is like a weasel” in nur 43 Schritten – bestehend aus zufälligen Veränderungen (Mutationen) und Auswahl der brauchbaren Veränderungen (Selektion) – entwickelt wird. Die Wahrscheinlichkeit, diesen Satz direkt als einmaliges Zufallsprodukt zu erzeugen beträgt 1/ 27 28 oder etwa 1/10 40. Zur Erklärung dieses Satzes allein durch natürliche, blinde Prozesse scheidet daher ein direkter „Zufallssprung“ aus.
Abb. 1 Ein Zufallssprung auf die Höhe H des Berges der Unwahrscheinlichkeit ist praktisch unmöglich. Dagegen scheint der Aufstieg in vielen einzelnen Schritten (angedeutet an dem „sanften Abhang“ links) bestehend aus Zufall und Selektion problemlos möglich zu sein.
Dawkins erklärt nun, wie sein Computer Modell das Problem mühelos bewältigt: Es beginnt mit einer zufälligen Auswahl von 28 Buchstaben (Generation 1). Der Computer prüft dann, welche Buchstaben mit dem Zielsatz übereinstimmen. Diese werden festgehalten und der Rest erneut zufällig gewählt (Generation 2). Dieser Prozess führt bereits nach 43 Schritten – bestehend aus Zufall und anschließender Selektion – zum Ziel.
Generation 1: WDLMNLT DTJBKWIRZREZLMQCO P
Generation 2: WDLTMNLT DTJBSWIRZREZLMQCO P
Generation 20: MELDINLS IT ISWPRKE Z WECSEL
Generation 40: METHINKS IT IS LIKE I WEASEL
Generation 43: METHINKS IT IS LIKE A WEASEL
Allerdings muss bei Dawkins‘ Modell der gesuchte Satz vorher in den Computer eingegeben werden. Ausserdem ist der Vergleich mit dem Zielsatz sicherlich nicht mit einem blinden Naturprozess zu vergleichen. Diese Probleme erkennt auch Dawkins und schreibt: Obwohl das Affen/Shakespeare Modell hilfreich ist, um den Unterschied zwischen Einzelschritt-Selektion und kumulativer Selektion zu erklären, ist es in wichtigen Punkten irreführend. Dazu gehört der in jeder Generation erfolgende Vergleich mit dem idealen Ziel-Satz, METHINKS IT IS LIKE A WEASEL. Das Leben funktioniert nicht so. Die Evolution hat kein Fernzie.l … Im realen Leben ist das Selektionskriterium immer kurzfristig, entweder das simple Überleben oder – genereller – der Reproduktionserfolg.
In seinem Buch „Der Gotteswahn“ (2) versucht Dawkins, auch das Argument der nicht reduzierbaren Komplexität zu widerlegen. Als Beispiel verwendet er nicht Behes Mausfalle (3) sondern ein recht ungewöhnliches Zahlenschloss: Eine andere beliebte Metapher für extreme Unwahrscheinlichkeiten ist das Zahlenschloss an einem Banktresor. Theoretisch könnte ein Bankräuber Glück haben und rein zufällig die richtige Kombination treffen. In der Praxis ist das Schloss mit einem so großen Unwahrscheinlichkeitsfaktor konstruiert, dass ein solches Szenario quasi ausgeschlossen ist – es ist fast ebenso unwahrscheinlich wie die Entstehung von Fred Hoyles Boing 747. Aber stellen wir uns einmal ein minderwertiges Zahlenschloss vor, das uns nach und nach kleine Anhaltspunkte liefert – die Entsprechung zu den >>Wärmer, wärmer<< Rufen von Kindern beim Topfschlagen oder Ostereiersuchen mit verbundenen Augen. Angenommen, die Tür öffnet sich jedes Mal ein kleines Stück weiter, wenn man der richtigen Einstellung näherkommt, und jedes Mal fällt ein wenig Geld heraus. Dann hätte der Räuber den Tresor in kürzester Zeit ausgeräumt.
Hier versucht Dawkins, die in der Natur nachgewiesene Existenz von nicht reduzierbarer Komplexität wegzudiskutieren und durch die ebenfalls in der Natur nachgewiesene schrittweise Anpassung an widrige Umweltbedingungen zu ersetzen. Ein Beispiel für letztere ist die Resistenz-Entwicklung von Bakterien gegenüber einem neuen Antibiotikum.
In der Technik wird die Methode der schrittweisen Anpassung mit Erfolg angewendet. Es ist die von Rechenberg entwickelte „Evolutionsstrategie“. Er demonstrierte 1964, wie mit diesem Verfahren z. B. der Strömungswiderstand eines komplexen Systems durch Anwendung blinder Naturprozesse minimiert werden kann. Dabei werden die Parameter des Systems bei jedem „Evolutionsschritt“ zufällig verändert und anschließend der Strömungswiderstand bestimmt. Führt die Veränderung zu einer Erhöhung des Widerstandes, so wird sie durch die Programmsteuerung rückgängig gemacht, bei Verringerung des Widerstandes dagegen beibehalten und als Ausgangspunkt für den nächsten „Evolutionsschritt“ verwendet.
Rechenberg (4) konnte nachweisen, dass dieses Verfahren bei Systemen mit sehr vielen Variationsmöglichkeiten der schnellste Weg zum Optimum ist. Das Verfahren der „Evolutionsstrategie“ wird heute bei technischen Optimierungsproblemen mit Erfolg angewendet. Aus diesem Grund sind auch die Voraussetzungen und Grenzen des Verfahrens genau bekannt.
Die Anwendung der Evolutionsstrategie setzt das Vorhandensein eines schrittweise veränderlichen Optimierungsparameters voraus – bei Rechenbergs ursprünglichem Beispiel der Strömungswiderstand. Unter der Zielvorgabe „Minimierung des Strömungswiderstandes“ testet das Modell alle möglichen per Zufall variierten Formen und führt schließlich auf die vorher unbekannte, optimale Form.
In der Biologie kann die Evolutionsstrategie zur Erklärung einer schrittweisen Veränderung von Organen dienen, sie zeigt andererseits aber auch die Grenzen einer Evolution durch zufällige Veränderungen und blinde Selektion. Mit diesem Verfahren kann prinzipiell kein real existierendes Zahlenschloss geöffnet werden. – Das Problem der nicht reduzierbaren Komplexität bleibt also ungelöst. – Die angenommene Zerlegung der Unwahrscheinlichkeit in kleine handliche Teile erweist sich damit ebenso wie das Erklimmen des Berges der Unwahrscheinlichkeit als Illusion (siehe Abb.2).