Beispiele alter jüdischer Messias-Erwartung

Hartmut Ising

Das jüdische Denken basiert auf der Bibel (TANACH) und der rabbinischen Auslegungs-Tradition. Diese Auslegungstradition änderte sich allerdings im Laufe der Zeit – u.a. mit dem Ziel, das jüdische Bibelverständnis möglichst stark von der christlichen Auslegung zu unterscheiden. Zu den Ursachen dieser Veränderung gehört der Antisemitismus im Christentum – beispielsweise die Replacement-Theologie und die Inquisition in Spanien.

Als Beispiel für diese Veränderung zitiere ich Rabbi Moses Alschekh (Safed, 16. Jahrhundert), der zu Jesaja 53 schreibt: Unsere Weisen haben von alters her die Tradition bezeugt, dass sich dieses Kapitel auf den Messias bezieht. Aus diesem Grund folgen wir ihnen und betrachten die Person dieser Prophetie als David, den Messias, der auf diese Weise erscheinen wird.

Im jüdischen Schrifttum wird dagegen seit dem Mittelalter in Europa und später überall unter dem leidenden Knecht aus Jesaja 53 das Volk Israel verstanden. Dieser Artikel soll interessierte Leser zu einigen der alten Wurzeln des jüdischen Bibelverständnisses führen.

Im Mittelalter wurde ein Großteil des jüdischen Schrifttums zensiert mit dem oben genannten Ziel, den Unterschied zwischen jüdischem und christlichem Denken möglichst groß erscheinen zu lassen. Da aber das alte jüdische Schrifttum einen gewaltigen Umfang hat, war diese Zensur nicht vollständig durchführbar. Daher sind unter den Schriften alter und hoch angesehener jüdischer Gelehrter einzelne Aussagen zu messianischen Prophetien erhalten geblieben, die eine erstaunliche Übereinstimmung mit christlichen Gedanken zeigen. Solche Gedanken wurden in jahrzehntelanger Fleißarbeit vorwiegend von christlichen Gelehrten aufgespürt und in Fachbüchern veröffentlicht. Eine Zusammenstellung dieser rabbinischen Gedanken gab der lutherische Theologe Risto Santala aus Finnland heraus. Viele Zitate sind der deutschen Ausgabe entnommen, die auch die genauen Literaturhinweise enthält. (Risto Santala: Der Messias im Alten Testament im Licht der rabbinischen Schriften Hänssler Vlg. Neuhausen- Stuttgart,1997, ISBN 3-7751-2779-8.)

Rettung durch den leidenden Messias

Die erste messianische Verheißung wurde von Gott direkt nach dem Sündenfall ausgesprochen:

Und ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zermalmen, und du, du wirst ihm die Ferse zermalmen (1.Mo.3,15).

Nach der aramäischen Targum-Tradition stellt dieser Vers eine messianische Verheißung dar.

In dieser Verheißung ist zweierlei angedeutet: Zum einen der Sieg des Nachkommens der Frau über die Schlange (und damit über die Sünde) und zum anderen sein Todesleiden durch den Schlangenbiss. Dementsprechend wird der Messias nicht nur als Retter von Israels Feinden auf dieser Welt angesehen, sondern auch als „der HERR unsere Gerechtigkeit“ (Jer. 23, 6).

Im Midrash findet sich die Aussage: Dies ist sein Name, mit dem man ihn nennen wird: Der HERR, unsere Gerechtigkeit. Dieser Gedanke über den Messias ist abgeleitet aus Jer.23,6 und 33,16, wo Gott dem Hause David verspricht, einen gerechten Spross zu erwecken „und sein Name wird sein: Der HERR unsere Gerechtigkeit.“ Rabbi Shmuel Ben Nahman (ca.260 nach Chr.) and Abba Bar Kahana (ca.300 nach Chr.) kamen zu dem Ergebnis, dass „dies der Name des Messias ist.“

Schon um 300 vor Chr. verglich Rabbi Yitshak den Messias mit Mose und nannte ihn den Letzten Retter: So wie ein erster Retter war, wird ein Letzter sein. So wie vom Ersten Retter (Moses) gesagt wurde (2.Mo.4,20), dass er seine Frau und seine Söhne nahm und auf einen Esel setzte, so wird vom Letzten Retter gesagt, dass er demütig ist und auf einem Esel reitet (Sach.9,9).

Aus dem Kapitel Jesaja 53 geht hervor, dass die Rettung des Volkes Israels von seinen Sünden dem Retter das Leben kostete:

Er wurde abgeschnitten vom Lande der Lebendigen. Wegen des Vergehens seines Volkes hat ihn Strafe getroffen. Und man gab ihm bei Gottlosen sein Grab, aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod, weil er kein Unrecht begangen hat und kein Trug in seinem Mund gewesen ist.

Trotzdem wird heute – wie in der Einleitung erwähnt – der leidende Knecht aus Jes. 53 als das Volk Israel betrachtet. Das war aber bis ins 16. Jahrhundert nach Chr. nicht so, wie das oben erwähnte Zitat von Rabbi Moses Aleshkh zeigt. Seine Sicht wird auch von Rabbi Elia de Vivas (ebenfalls Safed 16.Jh.) geteilt: So litt der Messias für unsere Sünden und wurde verwundet; wer nicht will, dass der Messias für unsere Übertretungen verwundet wurde, könnte die Wahl treffen, seine Sünden selbst zu tragen und dafür zu leiden.

Nach dem Targum bezieht sich zwar Jes. 52,13 auf den Messias: "Mein Knecht, der Messias, wird weise handeln". Die weiteren Verse werden aber auf das Volk Israel bezogen.

Nach einer heute weit verbreiteten jüdischen Tradition gibt es neben dem Messias-König oder Messias Ben David den leidenden Messias oder Messias Ben Joseph. Nach christlichem Verständnis handelt es sich hierbei aber um eine einzige Person, die in der Weltgeschichte zweimal in Erscheinung tritt, das erste Mal als leidender Gottesknecht und Retter von den Sünden und das zweite Mal als Messias-König im Friedensreich. Ein Hinweis in dieser Richtung folgt aus der Verwendung desselben Namens für den Messias-König in Jes.11 und für den leidenden Knecht in Jes.53:

Und es wird ein Spross aus dem Stumpfe Isais hervorgehen und ein Schoß aus seinen Wurzeln hervorbrechen; auf demselben wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rats und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Zu der Zeit wird es geschehen, dass die Heiden fragen werden nach dem Wurzelspross (sheresh) Isais, der als Panier für die Völker dasteht; und seine Residenz wird herrlich sein. (Jes.11,1-2+10).

Er wuchs auf vor ihm wie ein Schoß, wie ein Wurzelspross (sheresh) aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und keine Pracht; wir sahen ihn, - aber sein Anblick gefiel uns nicht. Verachtet war er und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Krankheit vertraut; wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt, so verachtet war er, und wir achteten seiner nicht. (Jes.53,2-3)

Die Herkunft des Messias

Einige Bibelstellen sprechen von einem ewigen Ursprung des Messias (Jes.9,5, Mich.5,1). Trotzdem war die Messias-Erwartung vor ca. 2000 Jahren auf einen Menschen gerichtet, wie das Beispiel von Bar Kochbar (135 nach Chr.) zeigt. Wir wollen im Folgenden einige Ausnahmen von dieser üblichen Meinung betrachten. Das erste Beispiel ist ein Kommentar zu Psalm 72,17 aus dem Midrash: Auch dieser König ist der Messias, denn es steht geschrieben: 'Ein Spross wird aus dem Stumpf Isais hervorgehen, und er wird die Geringen richten in Gerechtigkeit’ (Jes.11,1+4), und: "Bevor die Sonne war, war sein Name 'Yinnon' (= soll aufsprossen). Diesen Namen erhielt der Messias vor der Erschaffung der Welt".

RaSHI (Rabbi Solomon Ben Yitshak 12. Jahrhundert, Worms) zieht zur Erklärung von Micha 5,1 neben Ps. 72 noch Ps. 118,22 heran: Er ist der Messias Ben David, wie es in Ps.118 heißt: Er ist der Stein, den die Bauleute verworfen haben, und seine Ursprünge sind von den Urzeiten her, denn bevor die Sonne war, war sein Name Yinnon.

In diesen beiden Zitaten wird "Yinnon" (Spross) als Name des Messias-Königs verwendet. Im vorigen Abschnitt wurde schon darauf hingewiesen, dass auch der leidende Knecht aus Jes. 53,2 ähnlich bezeichnet wird.

Rabbi David Qimhi geht in seiner Auslegung von Micha 5,1 noch einen Schritt weiter und sagt: Im messianischen Zeitalter wird gesagt werden, dass seine Ursprünge von alters, von den Urzeiten sind; von Bethlehem bedeutet, dass er aus dem Hause Davids sein wird, denn es ist eine lange Zeitdauer zwischen David und dem Messias-König; und er ist El (Gott), deshalb ist er von alters, von den Urzeiten her.

Zum Abschluss dieses Themas sei noch einmal der Midrash zitiert, der in der Auslegung zu Ps. 110,1 verschiedene Bibelstellen anführt: Es ist ein Aussprach der Propheten, denn Jes. 52,13 lautet: Mein Knecht wird Erfolg haben und Jes. 42,1 fügt hinzu: Hier ist mein Knecht, den ich erhalte. Es ist ein Ausspruch der Psalmen, denn Ps. 110,1 sagt: der HERR sagt zu meinem Herrn, setze dich zu meiner Rechten und Ps.2,7: Er sagte zu mir, Du bist mein Sohn, und an anderer Stelle steht geschrieben (Dan. 7,13): Ich schaute in Gesichten der Nacht und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen. Der HERR sagte: "Du bist mein Sohn".... Diese Aussprüche werden im Messias-König in Erfüllung gehen.

Israel und die Christen warten auf den Messias

Häufig wird der Unterschied zwischen der jüdischen und christlichen Messias-Hoffnung so ausgedrückt, dass Israel auf den kommenden, die Christen dagegen auf den wiederkommenden Messias warten. Aber auch ein altes Gebet zu Yom Kippur (großer Versöhnungstag) von Rabbi Eliaz Ha-Qalirar aus dem Gebetbuch für die Festtage ("Mahzor Rabbah") enthält die Bitte, dass der Messias wiederkommen möchte: Der Messias, unsere Gerechtigkeit, hat sich von uns abgewendet, und wir können niemand finden, der uns Gerechtigkeit erwirken kann. Das Joch unserer Sünden und Übertretungen ist eine Bürde für uns; und er wurde wegen unserer Übertretungen verwundet, er trug unsere Schulden auf seinen Schultern; es gibt Vergebung für unsere Sünden. In seinen Wunden sind wir geheilt; es ist Zeit für eine ewige Neuschöpfung. Sende ihn zurück aus den Kreisen, bring ihn aus Seir zurück, so dass wir ihn im Libanon hören können, ein zweites Mal durch Yinnon.

Dabei bedeutet "Kreise" die Kreise der Erde, "Seir" ist ein Geheimname für Rom, das Zentrum der katholischen Kirche, wo der Messias nach dem Talmud mit den Armen und Kranken sitzt. "Libanon" ist eine Bezeichnung für den Tempel und "Yinnon (Zweig, Spross) ist als einer der Namen des Messias schon erwähnt worden.

Eine besonders bewegende Prophezeiung darüber, wie das Volk Israel seinen Messias erkennen wird, steht in Sach.12,10. Die darin enthaltenen Worte: "Sie werden auf mich sehen, den sie durchbohrt haben", beziehen sich nach RaSHI, RaDaQ und Ibn Esra in Übereinstimmung mit dem Talmud (Sukka 52b) auf den Messias Ben Joseph.

Rabbi Moshe Alshech (zitiert nach A. M’Caul, Rabbi David Kimchi’s Commentary upon the Prophesies of Zechariah, James Duncan, London, 1837, p. 163) schreibt zu Sach.12,10: “Ich will noch ein Drittes tun und zwar, dass sie auf mich blicken sollen, denn sie sollen ihre Augen zu mir aufheben in vollkommener Buße, wenn sie ihn sehen, den sie durchstochen haben, das ist der Messias Ben Joseph; denn unsere Rabbiner, gesegnet sei ihr Andenken, haben gesagt, dass er alle Schuld Israels auf sich laden wird und in dem Krieg geschlagen werden wird, um Sühnung zu erwirken, in solch einer Weise, dass es gerechnet wird, als ob Israel ihn durchstochen habe, denn aufgrund ihrer Sünde ist er gestorben; und damit es ihnen als vollkommene Sühnung angerechnet wird, werden sie Buße tun und den Gesegneten anschauen und sagen, dass es außer ihm keinen gibt, der denen vergibt, die über ihn trauern, weil er als Bezahlung für ihre Sünden starb: Das ist die Bedeutung von “sie werden auf mich blicken”.

Hier interpretiert Rabbi Moshe Alshech, der als Heiliger (Hakadosh) bezeichnet wird, das Sühneleiden des Gottesknechtes in Jesaja 53 als das Leiden des Messias Ben Joseph. Im Gegensatz dazu ist nach der im heutigen Judentum vorherrschenden Meinung das Volk Israel der leidende Gottesknecht.

David Flusser war Professor für Frühchristenheit und Judaismus an der Universität Jerusalem und starb im Jahr 2000. Er glaubte an einen persönlichen Messias und pflegte zu sagen, dass die Bürger von Jerusalem dem Messias, wenn er nach Jerusalem kommt, entgegengehen werden und ihn fragen: „Bist du das erste Mal hier?“

(2020-03)