Hartmut Ising: Aus meinem Leben

Straßen aus durchsichtigem Gold

Ich wurde im Februar 1938 in Falkensee geboren – als drittes und jüngstes Kind in einer christlichen Familie. Mein Vater war Lehrer und leitete nebenamtlich eine landeskirchliche Gemeinschaft in Berlin, meine Mutter war vollzeitig zu Hause.
Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehört die begeisterte Schilderung meiner Großmutter über das himmlische Jerusalem mit Straßen aus durchsichtigem Gold – wo Gott selber wohnt und die Stadt erleuchtet. In diese Stadt wollte ich so schnell wie möglich. – Heute interessiert mich die Frage, ob das durchsichtige Gold nicht nur symbolische Bedeutung hat, sondern einen Hinweis auf eine für uns unvorstellbare Realität in der Ewigkeitswelt darstellt.

 

Heilsgewissheit

Mit knapp 11 Jahren nahm mich ein gläubiger Pfarrer in Westfalen als Pflegesohn auf, weil ich in der DDR nicht zur höheren Schulbildung zugelassen wurde. Dort bekam ich auch Orgelunterricht, wurde konfirmiert und besuchte die Zusammenkünfte des CVJM – aber ich hatte keine Heilsgewissheit. Auf meine Frage wies mich mein Pflegevater auf Römer 8,14-16 hin:
„Denn so viele durch den Geist Gottes geleitet werden, diese sind Söhne Gottes. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, wiederum zur Furcht, sondern einen Geist der Sohnschaft habt ihr empfangen, in welchem wir rufen: Abba, Vater! Der Geist selbst zeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“
Er sagte mir, ich solle unter Gebet darüber nachdenken, ob ich in mir diese Motivation entdecken könne, die nicht aus meiner eigenen Natur stammt. Als ich diesem Rat folgte, wurde mir klar, dass mein Interesse an der Bibel von Gottes Geist gewirkt war. Ich habe im späteren Glaubensleben noch manche Krisen erlebt, aber nie die an diesem Punkt erlangte Heilsgewissheit verloren.

 

Doch ungläubig?

1956 kam ich endgültig nach Berlin zurück und wohnte dann in einem neu eröffneten, christlichen Erholungsheim am Wannsee, das mein Vater leitete. Etwa in dieser Zeit unterhielt ich mich mit einigen Christen über die Schöpfung und widersprach ihrer aus
der Bibel abgeleiteten Ansicht, dass die Erde älter sei als die Sonne. Meine wissenschaftliche Entgegnung: Der Planet kann nicht älter sein als das Zentralgestirn. Dies wurde von meinen Gesprächspartnern als Unglauben gewertet. Aber war ich wirklich ungläubig?
Ich kam nicht zur Ruhe über diese Frage uns sprach mit meinem Vater darüber. Er gab mir einen weisen Rat:
„Wirf weder die Bibel über Bord noch verdrehe deine wissenschaftliche Erkenntnis. Denke über beides mit Gebet nach.“ 1

 

In Gottes Schule

Nach meiner Reifeprüfung begann ich im Jahre 1958 mit der Physikstudium an der Technischen Universität in Berlin. Durch die vielen neuen Eindrücke verblasste mein Interesse an der Bibel. Mein Vater beobachtete das mit Sorgen und ermahnte mich: „Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen“ – aber ich hörte nicht darauf. Da griff mein himmlischer Vater im Oktober 1959 ein. Ich erlitt einen schweren Motorradunfall und lag drei Tage lang mit inneren Blutungen zwischen Tod und Leben im Krankenhaus. In diesen Tagen erhielt ich von einer gläubigen Musiklehrerin, mit der ich oft musiziert hatte, eine Karte mit dem Bibelwort aus Psalm 118,17: „Ich werde nicht sterben, sondern leben und des HERRN Werke verkündigen.“ Mit dem nächsten Vers erklärte mir der HERR sehr deutlich, was ich erlebt hatte: „Der HERR züchtigt mich wohl; aber er gibt mich dem Tode nicht.“ Seit dieser Zeit studiere ich täglich meine Bibel.
Einige Zeit später fiel ich durch das Vordiplom in meinem Lieblingsfach Experimentalphysik. Mit der mangelhaften Klausur in der Aktentasche kam ich am Abend zur Bibelstunde. Mein Vater wusste nichts von meinem Versagen und las als Text seiner Ansprache:


1 Nach vielen Jahren fand ich die Antwort auf meine Frage im Kommentar von RASHI, einem berühmten rabbinischen Bibelgelehrten, den mir ein befreundeter Kollege aus Haifa geschenkt hatte. RASHI schreibt zum vierten Tag des Schöpfungsberichtes: „Es werden Lichter usw. Sie wurden am ersten Tag geschaffen, und am vierten Tag befahl Er ihre Verteilung am Himmel.“ RASHIs Argument beruht auf der Unterscheidung des Wortes bara: schaffen vom Wort asah: machen – Am Anfang schuf Gott (1.Mo1,1) – Gott machte die zwei großen Lichter, (1.Mo.1,16) (vergleiche meinen Aufsatz: Gedanken zum biblischen Schöpfungsbericht).

„Saget Dank allezeit für alles Gott und dem Vater in dem Namen unsers HERRN Jesu Christi.“ (Eph. 5:20) Ich war nicht bereit, dieses Wort für mich anzunehmen, ging nach der Bibelstunde in das Nebenzimmer zu meinem Vater und berichtete ihm von meinem Versagen. Er sagte nur: „Dann wollen wir tun, was uns Gottes Wort gesagt hat“, kniete nieder und dankte Gott. Mit zitternden Knien und völlig ratlos dankte auch ich meinem Gott.
Für mich war die gesamte Studienplanung zerbrochen, denn mit diesem Ergebnis konnte ich nicht in das von mir erhoffte physikalische Institut aufgenommen werden. So suchte ich mit viel Gebet nach einem anderen Weg. Der Herr führte es so, dass ich im Institut für Technische Akustik angenommen wurde, wo ich schließlich sogar das Thema meiner Diplomarbeit – „Klangerzeugung in Orgelpfeifen“ – als Doktorarbeit fortsetzen konnte.
Im Mai 1967 lernte ich meine zukünftige Frau Marion kennen, und wir beide versuchten herauszufinden, ob Gott uns für einander bestimmt hatte. Im Oktober bekamen wir Klarheit darüber und die Zustimmung unserer Eltern. Wir verlobten uns und heirateten im Januar 1968. Gott hat uns fünf Kinder geschenkt – alle sind glücklich verheiratet. Inzwischen haben wir zwölf Enkelkinder. Kurz nach unserer Hochzeit wurde mein Vater in die himmlische Heimat gerufen.

 

Das Problem der Taufe

Meine Marion stammt aus offenen Brüderkreisen, ich dagegen war ein Lutheraner, der mit Überzeugung sang: „…dass wir dein Wort und Sakrament behalten rein bis an das End.“ Aufgrund dieser Überzeugung ließ ich unsere Kinder als Säuglinge taufen. Durch unsere Kontakte mit der Brüderbewegung und viel eigenes Bibelstudium kam ich jedoch zunehmend ins Zweifeln darüber. Ein Bruder aus den USA sagte mir in dieser Zeit: „Dem Neuen Testament ist der Sakramentalismus fremd.“ Mit diesem Satz im Hinterkopf las ich das Neue Testament erneut und fand die Aussage bestätigt. Ein kurzes Studium der geschichtlichen Hintergründe zeigte mir, dass die Vorstellung, eine sakramentale Handlung in unserer Welt würde Auswirkungen in der Ewigkeitswelt erzwingen, nicht christlich sondern heidnisch ist. Diese Erkenntnis war entscheidend in dem langen und sehr mühsamen Prozess, in dem – wie ich es jetzt sehe – Gott mich umpflanzte. Wir fanden unsere neue geistliche Heimat ab 1976 in der Brüdergemeinde in Berlin Lichterfelde. Es dauerte jedoch auch danach noch lange, bis ich an diesem neuen Platz angewachsen war und Früchte bringen konnte.

 

Prägende Begegnungen

Im Jahr 1972 bauten wir in Wannsee ein Haus. Wir bekamen zunehmend Gäste aus Großbritannien und anderen Ländern, durch die ich viel geistlichen Gewinn hatte. Bruder David Gooding etwa brachte mich im Hinblick auf die Taufe einige Schritte weiter; ebenso gab er den Anstoß für mein jahrelanges Studium der Offenbarung (vgl. dazu meinem Artikel Grundzüge eines neuen Zeitschemas der Offenbarung). Ein Bruder aus Budapest riet mir, nicht zu viel ungesunde christliche Literatur zu analysieren, sondern so wie Paulus im Kolosserbrief Christus ins Zentrum zu stellen. Wenn er die Hauptsache ist, reiche daneben eine kurze Aufzählung der Gefahren. Dieser und viele andere gute Ratschläge haben mich nachhaltig geprägt.
Im Rahmen meiner Forschungsarbeit beim Bundesgesundheitsministerium wurde mir sodann eine wissenschaftliche Zusammenarbeit mit israelischen Kollegen nahe gelegt. Mit einer ersten Israelreise im Jahr 1978 begann eine jahrelange fruchtbare Zusammenarbeit. Meine Frau und ich pflegen seit dieser Zeit freundschaftliche Beziehungen zu verschiedenen jüdischen Kollegen. 2 Einige von ihnen haben wochenlang als Gastwissenschaftler in Berlin gearbeitet und waren dabei unsere Gäste in Wannsee. Wir hatten viele gute Gespräche und ich bekam viele wertvolle Hinweise aus der jüdischen Literatur.

 

Israel und die Gemeinde

Zunehmend beschäftigte mich in diesem Zusammenhang die Frage, welche prophetischen Abschnitte der Bibel sich auf Israel bzw. die Gemeinde beziehen und welche Pläne Gott mit Israel nach der Entrückung der Gemeinde hat. Ich gelangte zu der Einsicht, dass es sich bei der auch in evangelikalen Kreisen weit verbreiteten „Replacement-Theologie“ um eine verheerende Irrlehre handele. 3

 

Die Ökumene, die Landeskirche und wir

Im Jahr 1979 besuchten meine Frau und ich Christen in Rumänien und erlebten dabei die Verehrung von Ikonen in der orthodoxen Kirche mit. Mit Bestürzung wurde mir klar, dass ich durch meine Zugehörigkeit zur Ökumene eine Mitverantwortung für diese schlimme Praxis trug. In Folge dieses Erlebnisses traten meine Frau und ich aus der evangelischen Landeskirche aus. 4
Zwei Jahre nach meinem Kirchenaustritt entschied ich mich, mich nun auch biblisch taufen zu lassen. Es war für mich eine Gebetserhörung, dass sich der Taufstreit in unserem Freundeskreis dadurch nicht verstärkte.


2 Unsere gemeinsamen wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind im ResearchGate unter meinem Namen aufgelistet.
3 Die „Replacement-Theologie“ besagt, dass Israel von Gott endgültig verstoßen und durch die Kirche ersetzt worden sei. Die Lehre wurde bereits Ende des 18. Jahrhunderts von Manuel Lacunza in einer Buch in spanischer Sprache widerlegt. Die englische Übersetzung seines Buches trägt den Titel „The Coming of Messiah in Glory and Majesty“. Sie bewirkte seinerzeit ein völlig neues Studium der prophetischen Schriften der Bibel, da seit der Zeit von Augustin nicht mehr zwischen der Prophetie für Israel und für die Gemeinde unterschieden worden war.
4 Meine Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche erschien mir zunächst noch als richtig, weil auch die treuen Gläubigen in Sardes (Off.3,1-6) nicht aufgefordert werden, ihre „lebendig tote“ Gemeinde zu verlassen. Damit befand ich mich aber in einem ausweglosen Konflikt. Letztlich war mir ein gutes Gewissen in der Sache der Bilderverehrung jedoch wichtiger als die Klärung dieser Frage, daher fuhr ich mit meiner Frau zum Amtsgericht, und wir erklärten unseren Kirchenaustritt. Nach diesem Schritt war mir plötzlich auch die Konfliktlösung klar. Sardes begann als eine biblische Gemeinde, die evangelische Staatskirche dagegen als eine von Menschen gegründete Organisation. (Durch dieses Erlebnis lernte ich praktisch, dass geistliche Erkenntnis nicht nur auf Wissen basieren kann, sondern mit dem Glaubensgehorsam wachsen muss.)

 

Gemeindegründung in Potsdam

Mit dem Mauerfall bekamen wir die Möglichkeit, in Potsdam christliche Traktate zu verteilen. Die am Traktat angehängten Gutscheine wurden von 120 Interessierten an uns zurückgeschickt, woraufhin wir ihnen die gewünschte christliche Literatur überbrachten. Im Juni 1990 fand dann mit Unterstützung durch österreichische Christen eine Evangelisation in Potsdam statt, die durch einen wöchentlichen Bibelkreis fortgesetzt wurde. Aus dieser Arbeit ließ unser Herr Jesus Christus die Christliche Gemeinde Potsdam Babelsberg hervorgehen, zu der wir seither gehören.

 

Mein Verhältnis zur Bibel

Der Rat meines Vaters über Glauben und Wissenschaft ist für mich von grundlegender Bedeutung geblieben: „Wirf weder die Bibel über Bord noch verdrehe deine wissenschaftliche Erkenntnis. Denke über beides mit Gebet nach.“ Auch Galileo Galilei hatte 1613 an seinen Schüler Castelli geschrieben: „Zwei Wahrheiten können sich nicht widersprechen.“ Galilei drückte damit seine Überzeugung aus, dass die Bibel nicht mit der Natur im Widerspruch stehen kann. Irrtümer können aber auf beiden Seiten eine Rolle spielen, und auf beiden Seiten gibt es neben der Suche nach Wahrheit auch ideologische Verengung der Einsicht auf Kosten der Wahrheit.
In Psalm 119,160 steht: Die Summe deines Wortes ist Wahrheit. Das bedeutet, dass die Gesamtaussage der Bibel Wahrheit ist und so verstanden werden muss, dass keine Widersprüche zwischen Einzelaussagen entstehen. Da auch die Offenbarung Gottes in der Schöpfung Wahrheit ist, muss auch die naturwissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit mit wahrer biblischer Erkenntnis harmonieren. Das Ziel ist klar – aber auf dem Weg zu diesem Ziel sind noch viele Probleme ungelöst.
Die Bibel macht zu verschiedenen wissenschaftlichen Fragen ganz erstaunliche Aussagen. Ein Beispiel soll hier verdeutlichen, wie ich lernen durfte, mit diesen Aussagen umzugehen.
Der erste Satz der Bibel besagt, dass Zeit und Raum einen Anfang haben und von Gott erschaffen wurden. In Jes.40,22 wird uns außerdem mitgeteilt, dass das Universum nicht beim Ausspruch von Gottes Schöpfungswort vollendet wurde, sondern „Gott spannt die Himmel aus wie einen Schleier“ (Präsens!). Und tatsächlich: In Übereinstimmung mit diesem fortschreitenden Prozess beobachten heute die Astrophysiker die ständige Ausdehnung des Universums.
Durch paralleles Bibel- und naturwissenschaftliches Studium bin ich so zu einem eigenen – für mich befriedigenden – Verständnis der Schöpfertätigkeit Gottes gelangt (vergleiche meinen Aufsatz: Er ist der Schöpfer aller Dinge). Es ist das Verständnis, das schon vor 2000 Jahren der jüdischen Bibelgelehrte Philo von Alexandria vertrat. Er schrieb: „Die immaterielle Welt war schon innerhalb des göttlichen Logos vollendet, und nach diesem Modell wurde die mit den äußeren Sinnen wahrnehmbare Welt gemacht.“ Über Gottes Schöpferwort schrieb er: „Denn während Gott das Wort sprach, erschuf er im selben Moment.“ Es ist mir ein Anliegen, diese Sicht auch noch wissenschaftlich zu prüfen.
— s.d.g. —

 

Kurzvita:

1938: Geburt
1958: Abitur, Waldschule Berlin
1965: Diplom in Physik, TU Berlin
1969: Dr.-Ing. TU Berlin, Dissertation: Schallerzeugung in Orgelpfeifen
1970: Assistent, FU Berlin, Herz-Physiologie
1972: Fachgebietsleiter, Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene, BGA Berlin,
1982: Direktor und Professor, Bundesgesundheitsamt, später Umweltbundesamt, Berlin,
2000: Ruhestand